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Allein - Tag 2

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Knight-Poet's avatar
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Ich wache auf und schaue auf die Uhr. Es ist vier Uhr in der Frühe und stockfinster. Warum bin ich wach geworden? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es die Stille, die Leere meines Heims. Vielleicht hat ein Wasserhahn getropft. Vielleicht ist der Wind laut heulend über das Stahlbetondach gefahren. Vielleicht hat das Funkgerät geknackt. Oder gerauscht.

Ich liege mit geöffneten Augen da und starre in die absolute Schwärze. Es ist wieder still. So still, dass ich meine, das Blut in meine Ohren rauschen zu hören, laut wie einen wilden Fluss oder einen Wasserfall. Wenn jemals ein Geräusch da war, ist es längst verhallt. Verschluckt von der Leere und der Dunkelheit. Untergegangen im Schnee, der draußen mittlerweile sicherlich über einen Meter hoch liegt.
So dunkel ist es, dass flimmernde Formen vor meinem Auge erscheinen, Nerven, die aus schierer Anstrengung des Nichtstuns und Starrens Signale in mein Gehirn feuern. Das schiere Nichts als Auslöser.
Und auch meine Gedanken beginnen zu Wandern. Das schiere Nichts als Auslöser. Und auf einmal kann ich sie nicht mehr halten. Meine Gedankenwelt verlässt das Hier und Jetzt. Ich beginne zu driften im endlosen Ozean der Zeit und der Erinnerung.

Ich stehe in einem Schützengraben, die Ränder schneebedeckt. Die Erde jenseits davon ist aufgewühlt von Artilleriekratern, zertrampelt und matschig von den Stiefeln der Soldaten, voller Panzersperren und Stacheldraht. Alles ist verlangsamt. Alle Geräusche sind gedämpft. Um mich herum treiben die Kugeln durch die Luft, auf dem weg zu ihrem Ziel. Graben sich unendlich langsam vor mir und hinter mir und neben mir in die Erde, oder bohren sich in das Fleisch der Soldaten neben mir, die langsam, wie durch Sirup, zu Boden sinken.
Ich bin dort, und doch so weit weg. Ich treibe im Geschehen, doch kann es mich nicht berühren. Eine Artilleriegranate schwebt auf mich zu, so langsam, und doch so unabwendbar, unvermeidbar, endgültig. Ich beobachte ihr näherkommen, die konische Spitze, die langsame Drehung um die eigene Achse, die Schrammen in der Seite, wo die Züge des Geschützlaufes sie gegriffen haben, nur Momente bevor sie ihre unaufhaltsame Reise begann.
Ich spüre Angst, die alte Angst, die wohlbekannte Angst, obwohl ich weiß, dass ich nicht hier bin. Und doch bin ich hier, und ich weiß, dass das Ende gekommen ist. Die Granate wird einschlagen und mich und so viele andere in Fetzen reißen, und nichts von all dem wird irgendetwas bedeutet haben. Ich atme aus.
Dann, mit dieser unabwendbaren, behäbigen Bestimmung, schlägt die Granate ein. Weißes Licht hüllt meine Sinne ein.

Weiße Vorhänge. Noch immer ist meine Welt gedämpft und langsam. Ich liege da, treibe auf einem rauen Laken. Bin ich hier oder bin ich dort? Es macht wenig Unterschied. Ein Vorhang wir zur Seite geschoben, jemand in einem weißen Kittel erscheint. Unendlich langsam bewegt sich der Mund, und die Bedeutung der Worte scheinen ewig zu brauchen, um in meinem Gehirn anzulangen. Blindgänger, heißt es. Vom Luftdruck fortgeschleudert, heißt es. Knochenbrüche, Schädeltrauma, geplatzte Trommelfelle, heißt es. Die Stimme wäscht über mich hinweg. Ich treibe auf dem Laken. Die Vorhänge schließen sich wieder. Ich versinke erneut im Weiß.

Eine zweite Stimme. Eine Stimme in einer Uniform. Ein Klemmbrett. Hat diese Stimme schon einmal mit mir gesprochen? Oder ist es der erste Besuch?
Schock, heißt es. Panikattacken, heißt es. Angstzustände, heißt es. Von Katatonie ist die Rede. Ungeeignet, höre ich. Aussortiert. Unfähig. Kein Frontmaterial.
Die Stimme wäscht über mich hinweg.
Das Letzte, was ich registriere, ist das Knacken und Rauschen eines Funkgeräts.

Ich liege in der Stille und schaue hinüber in die Richtung, in der ich den Schreibtisch vermute. Ich kann mir nicht mehr sicher sein, wo er ist in dieser Dunkelheit. Wo ich bin. Hat das Funkgerät geknackt? Gerauscht? Ich halte inne, aber nichts ist zu hören.
Ich taste nach dem Lichtschalter. Weißes Licht explodiert aus dem Lampenschirm und ich kneife die Augen zusammen. Dann stelle ich meine Füße auf den kalten Kunststoffboden. Ich tappe über den alten Flickenteppich ins Bad.
Auf dem Rückweg bleibe ich in der Mitte des Raumes stehen. Das Licht der Nachttischlampe erhellt den Raum nur unvollständig. Ich stehe im Zwielicht und fühle den Flickenteppich unter meinen Zehen. Ich schaue hinüber zum Funkgerät. Fast scheint es meinen Blick zu erwidern.

Doch dann ist der Moment vorbei.
Teil zwei meines Projektes "Allein". Ich hoffe es gefällt. So langsam nehmen Geschichte und Konzept auch in meinem Kopf mehr Gestalt an. Ich weiß wo es ungefähr hingehen soll, und wo es ungefähr herkommen soll.
Und ich weiß, was ich Stilistisch in etwa möchte.

Ich bin gespannt, wie es weitergeht.


Falls ihr ihn noch nicht gelesen habt: Hier ist Tag 1

Es geht weiter: Allein - Tag 3 ist fertig
Comments5
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Tutziputz's avatar
Wow, Teil 1 fand ich schon sehr gelungen, vor allem durch die Rolle des Funkgerätes als einzigen Kontakt zur Außenwelt. Aber dieser Teil mit dem Traum des dramatisierten Protagonisten hat mich jetzt wirklich mitgerissen. Sehr gelungen :clap:

... ich werde gleich weiterlesen :)